Meine Wildnis - Roman by Peter Rock

Meine Wildnis - Roman by Peter Rock

Autor:Peter Rock [Peter Rock]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783832185473
Herausgeber: DuMont Buchverlag


Fünf

Die Züge wirken aus der Nähe viel größer, und selbst wenn sie langsam fahren, sind sie immer noch schneller, als man denkt. Das liegt an ihrem Gewicht. Sie brauchen lange, um zum Stehen zu kommen, und manchmal bleiben sie gar nicht stehen, sondern bremsen nur ab, während sie durchfahren.

Wir stehen halb auf dem Gleisgelände und halb draußen, wo der Maschendrahtzaun ein Loch hat. Ich schaue auf die Lichter der Stadt und die dunklen Gebäude und versuche das Hotel zu erkennen, dann gucke ich in die andere Richtung, zu den dunklen Bäumen im Stadtwald hinüber.

»Wird es im Zug laut sein?«, frage ich.

»Das werden wir sehen«, sagt Vater.

»Das werden wir hören«, sage ich.

»Punkt für dich, Caroline.«

»Woher weißt du denn, welcher Zug welcher ist?«, frage ich.

»Die Nummern«, sagt er.

»Spielt es eine Rolle, welchen wir nehmen?«, frage ich. »Wo wollen wir denn hin?«

Vater antwortet nicht. Er trägt eine schwarze Brille ohne Gläser. Ich weiß nicht, ob er mit Absicht einen Buckel macht oder ob er einfach anders steht als früher. Wir versuchen, nicht auszusehen wie wir. Sein roter Rucksack ist inzwischen so schmutzig, dass er unten ganz schwarz ist, und er hat noch mehr mit Klebeband geklebte und mit Zahnseide geflickte Stellen und gezackte Löcher, wo Ösen herausgefallen sind. An meinem Rucksack halten die Zähne vom Reißverschluss nicht mehr, und jedes Mal, wenn ich nachsehe, muss ich ihn ganz aufmachen und wieder zumachen. Randy guckt unter meinen Papieren, der Unterwäsche und den Socken heraus. Das ist alles, was ich besitze und nicht am Körper trage.

»Wir gehen in Richtung Süden«, sagt Vater irgendwann. »Ich will nicht, dass du noch mehr frieren musst als hier.«

Ich gucke hoch zu seinem Gesicht, und er schaut mich nicht an. Seine Augen huschen den Zaun entlang, vorbei an den Zügen und wieder zurück.

»Wonach hältst du denn Ausschau?«, frage ich. »Nach Vincent oder Victor oder wie er heißt?«

»Nach jedem«, sagt er. »Jedem, der nach uns suchen könnte.«

»Du versteckst dich nicht besonders gut«, sage ich. »Es ist auffällig, so herumzuzappeln.«

Zwei Gleise weiter steht ein Zug. Er steht seit einer halben Stunde an der gleichen Stelle, seitdem wir gekommen sind. Jetzt ist ein langgezogenes Ächzen zu hören, als ob er überlegt, sich in Bewegung zu setzen, aber es passiert nichts.

»Diese Lichter«, sagt Vater. »Es ist einfach nicht dunkel genug.«

»Diese Lichter brennen die ganze Nacht«, sage ich. »Sie sind für die Züge.«

»Da kommt er«, sagt Vater. »Bleib dicht bei mir, fall nicht zurück. Wenn ich oben bin, strecke ich meinen Arm aus und ziehe dich hoch.«

»Ist gut«, sage ich.

»Gib auf deine Beine acht, Caroline«, sagt er. »Pass auf, dass sie nicht unter den Zug geraten.«

Wir drehen uns vom Zug weg, als er näher kommt, damit uns der Lokführer vorne nicht sieht.

»Jetzt«, sagt Vater.

Der Boden besteht nur aus öligen schwarzen Steinen, auf denen man schlecht rennen kann. Der Zug fährt so schnell vorbei, dass die Schrift auf der Seite verschwimmt, und wir laufen auf eine rechteckige schwarze Türöffnung zu. Aber dann wird Vater langsamer und dreht ab, bevor er den Zug auch nur berührt hat. Ich folge ihm zurück ins Dunkel, wo das Loch im Zaun ist.



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